Textportrait

Ich bin freischaffender Sänger und als solcher musikalisch in ganz unterschiedlichen Epochen und Gattungen unterwegs. Das beginnt mit Musik der Renaissance und endet bei Uraufführungen Neuer Musik. Dabei singe ich als Solist in Oratorien und Opern, gebe Liederabende, singe in Solo-Ensembles und in professionellen Chören.

 

Anfang und Ausgang

Mein Vater war Pfarrer, in unserer Familie wurde immer viel gesungen. Geistliche Lieder zu Mahlzeiten und abends beim Zubettgehen und Weltliches, zum Beispiel in den Ferien beim Wandern. Mein Anfang als Chorsänger war wenig glanzvoll, denn aus dem Kinderchor an der Kirche meines Vaters wurde ich nach einigen Proben wieder hinauskomplimentiert, weil ich ein Brummer war. Das hat mich zum Glück später nicht davon abgehalten, mit 14 in den Erwachsenenchor zu gehen, in dem ich mit viel Freude sang.

 

Mit etwa 16 Jahren hörte ich im Haus meiner Großmutter einen Sänger wunderbar traurige Lieder singen, die ich noch nicht kannte. Es war Dietrich Fischer-Dieskau mit der Winterreise von Schubert. Das hat mich so sehr gebannt - das wollte ich auch. Ich bin zu Hause an den Notenschrank meiner Eltern gegangen, habe die Noten gefunden, mich ans Klavier gesetzt und gespielt und gesungen. Von da an war ich infiziert. Dieses Stück wollte ich richtig schön singen.

 

Ich begann, die Arien der Solisten bei unseren Chorkonzerten für mich selbst zu üben und meine Fühler in die Arien großer Werke wie dem Weihnachtsoratorim, der Matthäuspassion oder Händels Messias auszustrecken. Ich organisierte mir Gesangsunterricht. Zuerst fand ich keinen Lehrer, zu dem ich richtig Vertrauen fasste. Dann aber kam ich durch einen glücklichen Zufall zu dem amerikanischen Verdi-Bariton George Fortune, dem ersten Bariton der Deutschen Oper Berlin. Ich war fasziniert und deprimiert zugleich. Fasziniert, denn diese Art des Singens unterschied sich grundlegend von allem, was ich auf der kirchenmusikalischen Ebene als „Singen“ kennengelernt hatte. Meine Berührung mit Oper war bis dahin nicht nachhaltig gewesen, ich war von meinem Großvater zu ein oder zwei Mozartopern mitgenommen worden, die keine besondere Wirkung hinterließen. Und die vorherrschende Meinung in meinem Elternhaus war, dass Operngesang mit Wagner und unverständlichem und überlautem Brüllen schrecklicher Texte gleichzusetzen war. Doch dann kam Fortune und brachte meine Erfahrung und meine übernommene Meinung grundlegend ins Wanken. Ausgehend von den Verdi-Puccini-Bellini-Opern, in denen ich meinen neuen Lehrer und seine wunderbaren Kollegen wie Julia Varady, Editha Gruberova, Pilar Lorengar, Neil Shicoff, Matti Salminnen, hören, bewundern und genießen durfte, wurde ich ein großer Fan von dieser Art Oper und Operngesang.

 

Nach dem Abitur studierte ich Schulmusik, weil ich meine vier musikalischen Leidenschaften Singen, Querflöte, Dirigieren und Klavier gleichmäßig weiterentwickeln wollte. Außerdem lernte ich neben der Hochschule noch Traversflöte und sowohl auf sängerischer als auch auf instrumentaler Ebene die damals noch sehr junge historische Aufführungspraxis kennen. Als Traversflötist gründete ich ein Ensemble für Alte Musik, als Sänger ein Quintett, um die Lamentations von Thomas Tallis aufzuführen. Mit diesem Ensemble, den „Cantori d´Orfeo“ gewannen wir den zweiten Platz beim internationalen Gesangswettbewerb Guido d´Arrezzo in Arezzo in der Kategorie Vocalensembles.

 

Das Instrumentalensemble strukturierte sich irgendwann zu einem reinen Streicherensemble um. Daraufhin entschied ich mich, meinen Fokus nur noch auf das Singen zu legen und das Flöten nur noch zu unterrichten. Damals war ich 30. Mit allen Höhen und Tiefen lebe ich seitdem als freischaffender Sänger und bin dankbar über die Vielfalt und dauerhafte Abwechslung in meinem Beruf. Und dazu gehören auch Reisen in viele Städte, Länder und sogar Erdteile, in denen ich Konzerte geben darf.

 

Zweifel und Ordnung
 

Zweifel haben eine große Rolle in meiner Karriere gespielt. Oft wäre ich froh gewesen, wenn ich weniger Zweifel gehabt und weniger Fragezeichen in mein eigenes Singen eingebaut hätte. Denn natürlich hilft es viel, wenn ich in einem Konzert das Gefühl habe, ich bin dem gut gewachsen. Das führt zu überzeugenden Ergebnissen. Es gab immer wieder große Zweifel und ich habe viel daran gearbeitet, diese abzubauen. Und im Nachhinein würde ich sagen, dass ich auch viel daraus gelernt habe, nämlich eine neue Ordnung für mich zu finden. Die Zweifel an mir selbst haben sich vor allem mit meiner Zielsetzung verändert. Als ich noch den Anspruch hatte, in der allerersten Liga spielen zu wollen, waren die Zweifel wesentlich größer, ob ich da hingehöre. Erst als ich für mich immger genauer herausgefunden habe, wer ich bin und wohin ich mich passend einordnen kann, merkte ich, wie meine Zweifel kleiner wurden.

 

Wachstum und Entwicklung

 

Beim Thema Wachstum oder Entwicklung habe ich die Idee von einem Stufenmodell. Wenn man eine neue Stufe erklimmt, steht man ganz am Anfang einer neuen Ebene. Man geht weiter, wird besser, bis man am Ende der Ebene gegen eine Wand läuft. Man versucht hindurchzukommen, doch es klappt nicht und man verliert womöglich den Glauben an sich selbst. Das kann eine sehr schwierige Phase sein, bis man begreift, da steht der Sprung zu einer neuen Ebene bevor. Doch dort steht man wieder am Anfang. Etwas ist besser geworden, doch weil man es noch nicht gut kann, ist es auch wieder schlechter, als das rundere Ergebnis von der Stufe zuvor. Und dann muss man sich wieder durchbeißen, man macht wieder Fortschritte, bis man wieder vor die nächste Wand läuft und das Spiel von vorne beginnt.

 

Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit

 

Was mir beim Singen besonders wichtig ist, sind Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Ich möchte, dass die Leute das Stück verstehen. Damit ich es ganz klar und deutlich zeigen kann, muss ich das Stück selbst gut verstanden haben. Musik, die ein Komponist geschrieben hat, den ich dafür respektiere und bewundere. Zu jedem Stück, auch wenn es vom gleichen Komponisten ist,  zu jedem neuen Lied oder jeder neuen Arie, muss ich einen Schlüssel finden. Wann erschließt es sich mir so, dass ich es überhaupt gut genug wiedergeben kann? Was lese ich aus der Musik? Es ist ein spannender Balanceakt, wieviel es von mir braucht, damit auch die Seite des Stückes erfüllt wird, die durch den Interpreten belebt werden muss, damit es ganz ist. Sich selbst herausnehmen funktioniert nicht, dann funktioniert auch das Singen nicht gut. Das Singen funktioniert am besten, wenn man emotional beteiligt ist. Aber es darf auch nicht zu viel sein, denn dann überschwemmt man das Stück mit seinem eigenen und „überfährt“ leicht den Komponisten.

 

Lehren und Lernen

 

Ich gebe mein Wissen weiter, auf verschiedenen Ebenen. Wenn ich zum Beispiel Querflöte unterrichte, dann hängt es von jedem Schüler ab, wieviel er auf- und annehmen kann. Den Schülern möchte ich in den Stücken zunächst die Strukturen beibringen, was vielen erstaunlich schwer fällt. Bei den Inhalten bin ich zurückhaltend, andere Lehrer machen das anders. Doch ich möchte die Grenze nicht überschreiten zu „ich mache das Stück“ und es dem Komponisten wegnehmen. Was die technische Seite angeht, bin ich als Lehrer ziemlich erpicht darauf, dass die Schüler genau das machen, was ich sage, da bin ich streng. Beim Querflötenunterricht geht es sehr gut auf, da habe ich jahrzehnte lange Erfahrung. Beim Singen taste ich mich langsam heran. Alles hängt am Hören. Den Schüler zu hören und Rückschlüsse auf die notwendigen Veränderungen zu ziehen, ist eine große Herausforderung. Dazu gehört auch, nicht den fünften Schritt vor dem ersten zu machen, sondern zuzulassen, dass das Singen wachsen darf.

 

Wenn ich mit Kollegen probe, dann sind die Leute wesentlich weiter und an viel differenzierteren Punkten verständig oder berührbar. Vieles muss nicht gesagt werden, in erster Linie muss es mir selbst klar sein. Das ist ein spannender Prozess bei der gemeinsamen Arbeit. Die letzten Geheimnisse zu offenbaren, das ist nicht einfach. Das ist sehr intim und es in Worte zu fassen ist mitunter sehr schwierig und bedarf einer gewissen Vertrautheit.

 

Ich habe mein ganzes Sängerleben Gesangsunterricht genommen, so auch jetzt. Ich bin unendlich dankbar für meinen guten Gesangslehrer. Es liegt jedoch immer eine Schwierigkeit darin, das zu übertragen, was ein Lehrer mir beibringt. Vielleicht wird etwas besser,  aber es funktioniert noch nicht ganz. Es ist also notwendig, das Erlernte zu übersetzen in mein eigenes Singen. Es zu meinem eigenen zu machen, vielleicht sogar etwas abzuweichen davon, was der Lehrer sagt, damit es bei mir und in meinem System gut funktioniert.

 

Ziel und Entfaltung

 

Ich möchte mich der Ausnutzung meiner Möglichkeiten nähern. Am liebsten würde ich hundert Prozent erreichen, auch, wenn das utopisch ist. Das ähnelt einem Formel1-Rennfahrer, der nicht aufhören kann, bis er die perfekte Runde gefahren hat. Und er fährt nie die perfekte Runde, auch wenn er die anderen in Grund und Boden fährt.

 

Es ist egal, ob diese Annäherung an seine Möglichkeiten durch das Singen stattfindet oder durch etwas anderes. Meines ist das Singen. Ich habe immer gesagt, wenn meine Mutter mir früher einen Tennisschläger in die Hand gedrückt hätte und in mir die gleiche Begeisterung wie für Musik gewachsen wäre, hätte ich es vielleicht übers Tennisspielen gelernt. Das, was ich suche, wäre das gleiche geworden: meine Möglichkeiten möglichst zur Gänze zu entdecken.

 

Ich bin stolz darauf, dass ich seit dreißig Jahren von meinem Singen leben kann. Dass es mir immer noch Spaß macht und ich das Gefühl habe, ich mache weiterhin Fortschritte. Ich freue mich sehr, dass ich mit der intensiven Beschäftigung mit Musik und mit der jahrelangen Auseinandersetzung mit dem „Problem Singen“ sehr viel über mich selbst erfahren habe und weiterhin erfahre. Und ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass musikalische Erkenntnis niemals fertig ist. Ich entdecke ständig neue Aspekte in der Musik und gelange immer tiefer in die Stücke hinein. Ich möchte mir bewahren, auch weiterhin neugierig zu bleiben und alles zu hinterfragen, was mir begegnet.


Interview von Stefanie Erdrich 
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